Schicksal

 

Jeden Morgen wurde ich immer wieder von dem gleichen grausamen Ton aufgeweckt. Meine Hand holte aus und brachte ihn, zum Schweigen. Mit Mühe verließ ich das Bett und spürte, heute war es anders als sonst.

Mein Kopf war schwer, meine Gedanken kannten keinen Stillstand. Sie rasten mir durch den Kopf.

„Ich muss mich für heute krankmelden, ich kann heute nicht zum Dienst erscheinen.“

An der Stimme meiner Chefin erkannte ich, wie unpassend es für sie war.  Dafür gab es wohl nie den richtigen Zeitpunkt. Sie wünschte mir gute Besserung.

Meine Arbeit als Krankenschwester war ein harter Knochenjob. Der kaum Platz und Zeit für Gespräche mit Patienten zuließ. Nach Dienstschluss war man einfach nur noch froh, wenn man die Tür hinter sich schließen konnte und seine Ruhe hatte.

Ich war einfach viel zu müde um aufzustehen. Meine Augen fielen schon von alleine zu.

Mein Blick zur Uhr verriet mir, dass ich noch einmal für zwei Stunden eingeschlafen war. Ich stand auf und merkte sehr schnell, dass es mir wieder besser ging. Da ich mich für heute krankgemeldet hatte, konnte ich nicht in die Stadt fahren um mir neue Klamotten zu kaufen. Daher beschloss ich, mir einen Tee zu kochen und ein gutes Buch zu lesen.

Am nächsten Tag war alles wieder in Ordnung. Ich konnte mich im Krankenhaus wieder um die Patienten kümmern. Die älteren Herrschaften brauchten mehr Aufmerksamkeit, aber mir fehlte wie immer die Zeit. Gerade als ich einen Patienten unterhaken musste, wurde mir ganz kurz, schwarz vor Augen. Meine Kollegin bemerkte es rechtzeitig und eilte mir zu Hilfe.

„Was ist los mit dir?“, wollte sie wissen

„Ich weiß es nicht, es fing gestern nach dem Aufstehen schon an. Mir wurde auf einmal schlecht. Erst dachte ich, ich müsste mich übergeben. Ich habe mich dann noch einmal hingelegt und dann war es wieder vorbei.“

„Kann es sein, dass du schwanger bist?“

„Nein, da es keinen Mann in meinem Leben gibt, fällt das schon einmal weg.“

„Du solltest dich trotzdem einmal untersuchen lassen, normal ist das nicht.“

Ich nickte ihr zu und bis zum Dienstschluss war der Spuk wieder vorbei.

Ich ging zu meinem Hausarzt und sagte ihm:

„Mit mir stimmt irgendetwas nicht! Mir wird immer schwindelig und dann nach einiger Zeit ist es wieder vorbei. Als wenn nichts gewesen ist.“

Er schaute mich an und hörte mir einfach zu.

„Wir werden ihr Blut untersuchen und noch einige andere Untersuchungen durchführen.“

In den nächsten Tagen musste ich wieder in die Sprechstunde um die Ergebnisse zu besprechen. Es war alles ohne Befund.

„Stehen sie zurzeit unter besonderem Stress? Bereitet ihnen etwas Kummer?“

Ich konnte alle Fragen mit einem Nein beantworten. Wir beide verblieben so, dass ich mich wieder in der Sprechstunde melden würde, wenn es wiederauftauchen sollte.

In den nächsten Tagen ging es mir wieder richtig gut.

Das Wochenende hatte ich frei. Ich hatte mich mit einer Freundin verabredet und freute mich schon darauf, mit ihr um die Häuser zu ziehen. Voller Freude legte ich mir ein für den Anlass passendes Kleid heraus. Der Schwindel war wieder da.

Bitte nicht jetzt! Ich hatte mich doch so sehr auf diesen Abend gefreut. Die Tränen der Enttäuschung liefen mir über das Gesicht.

Meine Freundin Steffi klingelte und ich musste ihr nun sagen, dass ich nicht ihr mitkommen konnte. Sie hörte sich in aller Ruhe an, was ich zu sagen hatte. Liebevoll nahm sie mich in den Arm und das Schönste war, sie war nicht einmal sauer oder enttäuscht. Wir haben bis in die frühen Morgenstunden zusammengesessen und gequatscht.

Da merkte ich, wie sehr mir ein Partner fehlte. Freunde, sind etwas Wundervolles, doch können sie nie einen Partner ersetzen. Irgendwie hatte ich nie Zeit für eine Beziehung. Die Arbeit nahm sehr viel Raum und Zeit in Anspruch. Dann war ich immer für andere da, doch manchmal glaube, ich hatte mich selber dabei vergessen.

Die Arbeit fiel mir immer schwerer und meinen Kollegen blieb das nicht verborgen. Ich hatte sonst immer eine innere Ruhe ausgestrahlt, doch das konnte ich nicht mehr. Immer mit der Angst im Nacken - der Schwindel kommt gleich wieder- arbeiten zu müssen, war zu einer Qual für mich geworden. Ich musste noch zwei Wochen durchhalten, dann stand mein Jahresurlaub ins Haus. Ich würde mich ausruhen, was sollte ich sonst machen? Die meisten meiner Freunde waren alle verheiratet oder so gebunden. Sie fuhren weg und sicher gab es auch das Angebot, mich anschließen, doch danach stand mir überhaupt nicht der Sinn.

„Beate, komm schnell. Frau Sievers geht es schlechter.“

Oh nein, Frau Sievers war eine ältere Dame, die fast bis auf die Knochen abgemagert war. Wenn sie einen so anschaute war kaum noch Leben in ihren Augen. Ich war immer nach Feierabend noch kurz bei ihr im Zimmer und habe ihre Hand gestreichelt. Durch ihre geschlossenen Augen, konnte ich sehen, dass sie wusste, dass ich es war. Ihr Gesicht entspannte sich dann für einen Moment.

Ihre Sauerstoffsättigung war ganz schlecht und ich wusste, es würde nicht mehr lange dauern und sie wird ihre letzte Reise antreten. Wir verlegten sie in ein Einzelzimmer, wo sie in Ruhe und Frieden einschlafen konnte. Meine Zeit erlaubte es mir nicht, oft nach ihr zu schauen, aber das war mir egal. Ihr einziger Sohn war auf Geschäftsreise und wir konnten ihn nicht erreichen.  Wenn er die nächsten 24 Stunden nicht hier sein würde, müsste sie ganz alleine einschlafen. Ich hatte Feierabend und setzte mich noch ein paar Minuten zu Frau Sievers. Ihre kraftlose Hand versuchte meine zu fassen. Ich streichelte ihre Hand und sah wie sich ihre Gesichtszüge entspannten.

„Ich wünschte, ich könnte mehr für sie tun, aber ich kann es nicht.“

Ihre Hand ließ meine los. Als wenn sie mir zeigen wollte, dass ich gehen sollte. Sie drehte ihr Gesicht von mir weg. Ich stand auf und streichelte noch einmal ihr Gesicht. Ich bat meine Kollegin, die Nachtschicht hatte, besonders oft zu Frau Sievers zu schauen. Sie nickte und wir wussten beide, dass kaum Zeit dafür sein würde.

Würde ich sie morgen noch einmal sehen oder war es heute das letzte Mal?

Es wird immer gesagt, nimm die Schicksale nicht mit nach Hause. Das ist oft leichter gesagt, als getan und auch hier wäre es schön, wenn man mal kurz mit seinem Partner darüber sprechen könnte. Ich setzte mich mit einem Glas Rotwein auf mein Sofa. Der Himmel weinte anscheinend auch. Regentropfen prasselten an meine Scheibe. Die Straßenlaterne schimmerte durch die Regentropfen hindurch. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen. Das Fernsehprogramm kannte anscheinend nur Mord und Totschlag oder Liebesfilme. Nach beidem stand mir nicht der Sinn.

Der Rotwein zeigte seine Wirkung. Eine traumlose Nacht ging zu Ende. In der Spätschicht Woche war der Tag so zerrissen. Ich genoss es immer lang im Bett zu liegen und dort auch zu frühstücken. Mir wurde etwas flau im Magen, wenn ich an meine Arbeit dachte. Würde Frau Sievers noch da sein? Ich versuchte den Gedanken daran abzuschütteln. Früher als sonst machte ich mich auf den Weg. Ich sah, dass die Zimmertür offenstand und meine Befürchtungen wurden wahr. Sie war heute Morgen um 7 Uhr eingeschlafen.

Das Schöne war, sie war nicht alleine. Ihr Sohn war in der Nacht noch hier gewesen und bis zum Schluss bei ihr. Der Tod ist in unserem Beruf ein ständiger Begleiter, doch daran würde ich mich nie gewöhnen. Es hatte immer etwas Endgültiges an sich.

Das Zimmer wurde für den nächsten Patienten hergerichtet. Ich war froh, dass es bis um Feierabend einigermaßen ruhig war auf unserer Station. Freitagabend, Übergabe und ein freies Wochenende standen mir bevor.

Samstag 11 Uhr, es wurde Zeit für mich aus den Federn zu kommen. Das Wetter lud mich zum Fahrrad fahren ein. Wo man hinschaute, viele glückliche Paare. Die Sehnsucht in mir wurde wieder einmal geweckt. Ich konnte gerade noch ausweichen, sonst wäre der kleine Hund genau in mein Fahrrad gelaufen. Ich war froh, dass uns beiden nichts passiert war- als ich die wütende Stimme eines Mannes wahrnahm. Der kleine Kerl saß neben mir, als wüsste er, was jetzt auf ihn zukommen würde. Er legte sich neben mich.

Völlig außer Atem, blieb der Mann neben mir stehen.

„Ganz toll Sam, schön Schutz suchen bei einer schönen Frau und hoffen, dass ich dich nicht schimpfen werde. Glaube mir, dass wird dir nicht gelingen. Ich danke ihnen, dass sie den kleinen Racker aufgehalten haben.“

Ich schaute dem Mann mitten in das Gesicht und ich hatte keine Ahnung, aber ein schönes warmes Gefühl strömte durch meinen Körper. Ich musste aufpassen, nicht Rot zu werden.

„Sam ist gerade auf mich zugelaufen, anscheinend hat er mich gesucht. Ich heiße Claudia, wie sie sehen fühlt er sich sicher bei mir.“

„Mein Name ist Sebastian.“

„Sie brauchen nicht mehr so traurig zu schauen, sie haben doch ihren Hund wieder.“

„Das stimmt! Leider gab es gerade ein trauriges Ereignis in meiner Familie. Sam komm, ich muss noch viele Dinge erledigen.“

Sam machte keine Anstalten sich von seinem Platz zu erheben. Er rollte sich auf den Rücken und ließ sich den Bauch kraulen.

„Ich merke schon, du machst wieder was du willst.“ Statt sauer zu werden, lächelte er ein wenig.

„Darf ich neben ihnen kurz Platzt nehmen?“

„Ja, sehr gerne.“

Sam erhob sich von seinem Platz und holte sich ein kleines Stöckchen, auf dem er herumkauen wollte.

Sebastian legte die Hände um seine Knie, als müsste er sich selber festhalten.

„Wenn sie wollen, können sie reden, ich bin eine sehr gute Zuhörerin.“

„Ich habe meine Mutter verloren. Ich war immer nur für andere da. Hatte nie wirklich Zeit für sie. Jetzt wo ich sie nie wiedersehen kann……“

„Ich weiß, dass sie mich gleich für verrückt halten werden, aber ist ihr Name Sebastian Sievers?“

„Sie kennen mich? Woher? Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.“

„Ich kenne sie nicht, aber ich kenne ihre Mutter. Ich habe sie die letzten Tage betreut. Ich bin Krankenschwester. Ich habe ihre Hand gehalten und so sehr gehofft, dass sie noch rechtzeitig da sind, damit sie nicht alleine ist, wenn sie von uns geht.“

Sebastian erzählte mir, wie sehr er beruflich eingespannt war. Kaum Freizeit hatte. Die wenige Zeit, die ihm zur Verfügung stand, verbrachte er mit seinem Hund.

„Das Leben geht manchmal sehr eigenwillige Wege. Ich schreibe ihnen meine Handynummer auf. Wenn ihnen danach ist und sie jemanden zum Reden brauchen, rufen sie mich an.“

Sam fing laut an zu bellen und rollte sich vor mir.

„Er scheint sie zu mögen. Ich würde ihr Angebot sehr gerne annehmen. Wenn sie mögen, rufe ich sie in den nächsten Tagen an.“

„Sehr gerne. Ich freue mich euch wiederzusehen.“

Ich machte mich auf den Weg nach Hause. Ich war nicht gerade weit mit meinem Fahrrad gekommen, aber anscheinend weit genug.

Wieder erfüllte mich dieses warme Gefühl und ich schrieb ihm, dass ich mich freuen würde.

Am Tag der Beerdigung schrieb er, ob ich ihn begleiten wolle. Er mochte nicht alleine vor ihrem Grab stehen. Ich war da und er hielt meine Hand.

Ich wusste, dass alles unglaublich war und schnell ging. Aber ich wollten diesen Abend nicht alleine sein.

Sebastian saß mir gegenüber und erzählte von seiner Mutter. Aus Kindheitstagen, was sie alles zusammen erlebt hatten. Der Vater hatte sich nie für sie interessiert und keiner von beiden vermissten ihn. Die halbe Nacht hatte er erzählt. Geweint, gelacht. Zorn stieg in ihm hoch, weil er es verpasst hatte, für sie da zu sein.

„Gehen wir ins Bett? Du kannst mir morgen weiter von deiner Mutter erzählen.“

„Hast du Sam gesehen?“

Ich nickte.

„Er liegt schon am Fußende des Bettes und schnarcht leise vor sich hin.“

In dieser Nacht stellte sich nicht die Frage, ob wir zusammen schlafen würden. Beide suchten wir den Körper des anderen. Es fühlte sich unglaublich gut an, ihn zu spüren, ihn bei mir zu haben.

Die nächsten Wochen haben wir sehr viel Zeit miteinander verbracht. Beruflich ließ Sebastian sich versetzen, um jeden Abend bei mir sein zu können.

Jetzt komme ich nach Hause und er hört mir zu. Er lässt mich erzählen, streichelt mich, wenn er spürt, dass mein Tag härter war als sonst. Ich bin so dankbar, dass jetzt ein wundervoller Mensch für mich da ist.