Zwischen Himmel und Erde
Wie jeden Morgen dringt das Geschrei der Kinder an meine Ohren. Es sind meine beiden Kinder, Julian und Janine, sie schaffen es immer wieder, sich nach dem Aufstehen mit Geschrei zu begrüßen. Meine Nerven klopfen in meinem gesamten Körper an. Meine Geduld löst sich auf wie ein Faden.
Erst wenn die Kinder das Haus verlassen haben, schaue ich zu meinem Mann. Ich nehme sein Bild und streichle sein Gesicht.
„Michael, drei Jahre ist es nun schon her, dass du nicht mehr bei uns bist und ich vermisse dich noch immer so sehr. Ich halte den Schmerz oft nicht mehr aus. Doch ich weiß auch, dass ich für die Kinder da sein muss. Ich werde nie vergessen wie du mich jeden Tag mit einem Kuss verabschiedet, mein Gesicht noch einmal berührt hast. In deinen Augen konnte ich die Liebe sehen, du hast sie mich jeden Tag spüren lassen.
Die Kinder standen bei dir immer an erster Stelle. Sie vermissen dich genauso. Sie gehen nur anders damit um. Sie wollen stark sein für mich und mich nicht noch zusätzlich traurig machen. Manchmal wird es mir zu viel mit ihnen. Ich habe das Gefühl, mir geht die Kraft verloren. Immer nur stark sein kann ich auf Dauer nicht. Du hast uns nie spüren lassen, wenn du verärgert warst oder etwas nicht zu deiner Zufriedenheit verlief.
Ich kann die beiden Gesichter der Polizisten nicht vergessen, die an der Haustür geklingelt haben, um mir mitzuteilen, du bist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ein junger Fahranfänger hatte die Rote Ampel übersehen und ist frontal in dein Auto gefahren.“
Laufen, ich muss laufen gehen! Vielleicht bekomme ich den Kopf für ein paar Augenblicke wieder frei. Die Autoschlüssel in die Hand genommen und los geht es. Ich war schon längere Zeit nicht am Strand. Ich schaue zum Himmel, die Sonne blendet mich. Ich will anhalten, doch mein Auto wird weiter gestoßen. Als mein Auto zum Stehen kommt, steige ich aus.
Der Sand schwankt unter meinen Füssen. Meine Beine können oder wollen mich nicht mehr halten. Ich setze mich ans Wasser und muss mich erst einmal erholen bevor ich mit dem Laufen beginnen kann. Scheinbar hatte nicht nur ich allein heute den Gedanken, hier zu sein. Eine Person läuft am Strand entlang. Sie kommt direkt auf mich zu. Ich traue meinen Augen nicht. Es ist Michael.
„Das kann nicht sein! Du bist bei einem Verkehrsunfall gestorben. Wie ist es möglich, dass du hier bei mir bist?“ Er lächelt mich an, berührt mich sanft. Tränen laufen mir über das Gesicht. Michael reicht mir seine Hand. Als hätte es die drei vergangenen Jahre und den Unfall nicht gegeben gehen wir am Strand spazieren. Nach einer Weile, gefühlt viel zu kurz, bleibt Michael stehen. Er sieht mich an.
„Es wird Zeit für dich, mich los zulassen“, meint Michael. „Lass mich gehen und sei bereit für etwas Neues! Es wird Zeit zu gehen.“
„Was redest du da? Ich habe dich gerade wiedergefunden und nun soll ich schon wieder ohne dich sein? Das kann ich nicht!“
Michael geht mit mir zurück zu meinem Auto. Er streichelt noch einmal mein Gesicht. Und, so plötzlich, wie er aufgetaucht war, verschwindet er wieder.
Ich höre Stimmen um mich herum. Ich kann nicht klar erkennen woher diese Stimmen kommen, wer zu den Stimmen gehört. Sirenengeräusche dringen an mein Ohr.
„Michael, wo bist du? Was ist hier los?“ Ein Mann spricht mich an: „Mein Name ist Michael, ich bin Sanitäter. Keine Sorge, wir holen Sie hier heraus, Sie brauchen keine Angst zu haben.“ Ich kann das Gesicht des Mannes nicht genau erkennen. Er hat eine sehr warme, weiche Stimme. „Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus.“ Verschwommen nehme ich den Mann mit der warmen Stimme wahr. „Ich kann mich an nichts erinnern? Weshalb liege ich hier?“
„Sie hatten einen Autounfall.“
Ich muss meine Mutter anrufen, sie muss für ein paar Tage zu mir kommen. „Machen Sie sich keine Sorgen, es wird alles organisiert.“ Er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich spüre, wie ich innerlich ruhiger werde. Ich muss wieder an die Worte von Michael denken: Lass mich los!
„Hallo Mutti, ich bin es, Diane. Bitte rege dich nicht auf. Ich benötige deine Unterstützung.“ Ich höre wie der Atem meiner Mutter schneller wird. „Ich hatte einen Autounfall. Mir ist ein junger Mann in das Auto gefahren, liege hier im Luisen-Krankenhaus. Meine Hüfte ist gebrochen und morgen früh werde ich operiert. Ich bitte dich, für einige Zeit bei uns zu wohnen und dich um Julian und Janine zu kümmern.“
Sie versucht, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Ich bemerke, wie sie ihre Tränen unterdrückt. „Ich werde mich sofort auf den Weg machen, um rechtzeitig da zu sein, wenn die Kinder aus der Schule kommen“, ist alles, was sie sagt. Sie beendet das Telefonat. Meine Mutter ist sehr starke Frau. Mein Vater starb vor 15 Jahren an Krebs. Sie kämpften gemeinsam und verloren doch.
„Hallo, ich wollte mal nach Ihnen schauen.“ Das ist mein Rettungssanitäter, groß, schlank, sportlich.
„Vielen Dank, dass Sie sich um mich gekümmert haben.“
„Schon gut, ist ja mein Job. Woher kennen Sie eigentlich meinen Namen?“ „Michael ist mein Name, Sie haben ihn beim Unfall gerufen!“
Ich sehe ihn verständnislos an. „Wenn ich Ihnen das erzähle werden Sie mich für verrückt erklären!“ Der Sanitäter nimmt sich einen Stuhl und setzt sich zu mir. Ich erzähle ihm, dass ich meinen Mann am Strand getroffen habe, obwohl er vor Jahren verstorben ist. Ich lasse nichts aus und beobachte dabei sein Gesicht. Michael, der Sanitäter, hört einfach nur zu.
Meine Mutter und die Kinder kamen zu Besuch. Sie wirkte sehr gefasst. Sie stellte sich der Herausforderung, die Kinder zu betreuen. Ein Kind bleibt ein Kind, egal wie alt es ist. Meine Mutter zeigte mir ihre ganze Zuneigung. Julian und Janine bemühten sich nicht zu streiten, was mir ein Lächeln auf das Gesicht zauberte.
Als ich die Augen nach meiner Operation aufmache, nehme ich Michael verschwommen wahr. Er sitzt an meinem Bett und sieht mich mit seinen freundlichen blauen Augen an! „Ich wollte nur kurz nach dir sehen. Hast du den Eingriff auch gut überstanden?“ Ich nicke ihm zu.
Ich habe das Gefühl, das seine Anwesenheit alles leichter für mich macht.
Während meines Krankenhausaufenthaltes kommt Michael täglich zu mir. Ich kann es nicht erklären, ich freue mich einfach, ihn zu sehen. Er bringt Ruhe in meinen Körper. Meiner Familie gegenüber verschweige ich erst noch meine Empfindungen.
Freud und Leid liegen ganz dicht zusammen, so sagt man doch! Nach fünf Tagen darf ich endlich das Krankenhaus verlassen. Wehmütig frage ich mich: Was wird aus mir und aus Michael? Was hat das alles zu bedeuten? Ich empfinde seine Gesellschaft als sehr angenehm und will sie auch weiterhin genießen.
Ich konnte die Uhr danach stellen, zu welcher Zeit er an meine Zimmertür klopft. So auch heute. „Wir sehen uns heute zum letzten Mal. Wie ich gehört habe, wirst du morgen nach Hause entlassen.“ Sehe ich in seinen Augen so etwas wie Traurigkeit? Wenn ich jetzt nichts sage, trennen sich unsere Wege wieder.
Lass los! - immer wieder - Lass los! - diese Worte formten sich in meinem Kopf.
Ich nehme allen Mut zusammen. „Es muss hier nicht enden! Ich würde mich freuen, dich als Freund an meiner Seite zu haben.“ Das Lächeln auf seinem Gesicht war Bestätigung genug für mich.
Die Kinder und meine Mutter holen mich aus der Klinik ab. Zwei Krücken werden für die nächste Zeit meine Begleiter.
Ich warte jeden Tag auf Michael, doch vergeblich. Nach einer Woche wollte ich nicht länger warten, hoffen. Das normale Leben muss wiederbeginnen. Das Schöne an einer Familie ist, sie ist für einen da, wenn man sie braucht. Meine Mutter wird auf unbestimmte Zeit bei uns bleiben. Wir verbringen sehr viel Zeit miteinander, die Gespräche mit ihr tun mir gut.
Wenige Tage später kommt meine Mutter mit einem Lächeln auf mich zu und teilt mir mit, ich hätte Besuch. „Ich lass euch alleine“, weg war sie, Michael stand auf einmal im Wohnzimmer. Er füllte den Raum mit seiner Erscheinung aus.
„Hallo, komme ich ungelegen?“ „Nein, ich freue mich, dass du hier bist. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.“ Sein Lächeln war Antwort genug. „Ich brauchte einfach Zeit, musste über Vieles nachdenken. Ich möchte dich kennenlernen. Ich möchte wissen, wer du bist, wie du bist. Ich möchte Zeit mit dir verbringen. Ganz langsam, ohne Eile.“ „Das klingt gut. Ich kann dir nicht sagen, wohin es uns führen wird, das weiß man nie. Ich kann dir aber sagen, dass ich ebenfalls Zeit mit dir verbringen, dich kennenlernen möchte.“
In den folgenden Wochen nehmen wir uns bewusst Zeit füreinander. Meine Kinder sind an den Wochenenden bei meiner Mutter. Michael wollte immer Kinder, doch auch er hatte seinen Schicksalsschlag zu ertragen. Seine Frau wurde schwanger. Dann verlor sie das Kind. Sie war ständig krank, hatte wiederkehrende Kopfschmerzen. Niemand konnte ihr helfen, sie hatte einen Hirntumor. Es war für eine Heilung zu spät. Er war nicht mehr operabel.
Manchmal geht das Leben eigene Wege. Es hat uns beiden das Liebste genommen was wir hatten. Wir haben beide die Schattenseite des Lebens erleben müssen. Doch wo Dunkelheit herrscht, da ist auch Licht am Ende eines Tunnels. Manchmal braucht es einen Schicksalsschlag, um das Gute wiedersehen, begreifen zu können.
Michael ist ein Geschenk für mich. Meine Mutter ist glücklich. Sie verstehen sich richtig gut. Die Kinder sind zufrieden. Julian und Janine finden ihn eigener Aussage cool. Julian führt ganz lange Gespräche über seinen Vater mit ihm. Janine stellt ihn jetzt schon als ihren Stiefvater vor.
Ich bin meinen verstorbenen Mann so unglaublich dankbar, dass er mich zum Auto zurückgebracht hat und ich ihn loslassen konnte.