Zuversicht
Zu spät habe ich gemerkt, dass die Schule nicht mein Feind, sondern mein Freund ist.
Jeden Morgen erreichte mich die Stimme meiner Mutter, und immer wieder rief sie mir zu:
„Du musst aufstehen. Der Bus wartet nicht auf dich, und ich werde dich nicht jeden zweiten Tag zur Schule fahren.“
Ich zog mir wie jeden Morgen die Decke über beide Ohren. Erst als ich sicher sein konnte, dass meine Mutter das Haus verlassen hatte, bin ich aus dem Bett aufgestanden.
Ich verstand doch eh nicht, was sie mir in der Schule erzählen wollen. Wozu brauchte ich die denn überhaupt?
Die erste Stunde hatte ich erfolgreich geschwänzt. In der Hoffnung, nicht erwischt zu werden, schlich ich mich in der Pause in mein Klassenzimmer.
„Schön auch dich endlich begrüßen zu dürfen, junge Dame“
Aufgeflogen, würde ich mal sagen. Ich versuchte es mit einem Lächeln hinzunehmen.
„Wir sehen uns in der Großen Pause in meinem Büro!“ Ich sah meine Lehrerin nur an und sie wusste, was ich davon hielt.
„Wenn du so weiter machst, wirst du die nächste Klasse nicht erreichen.“
Ich spürte, wie mir die Wut von meinen Füßen in den Hals hochstieg.
„Was soll ich denn hier den ganzen Tag rumsitzen? Ich verstehe diese ganze Scheiße nicht, die sie uns erzählen. Ich habe es doch versucht. Ich bin einfach nicht geeignet für die Schule.“
„Du gibst einfach nur auf, du strengst dich nicht einmal an. Hauptsache, es stimmt für dich, dass Schule das Letzte ist, was man besuchen sollte. Was soll denn einmal aus dir werden? Jeder Schüler hat so seine Stärken und Schwächen, und wenn sie alle immer gleich aufgeben würden, wäre es hier sehr leer in der Schule.“
Ich hörte ihr einfach nicht mehr zu. Sie redete und redete. Nur das Klingeln zur nächsten Stunde konnte mich jetzt befreien. Durchhalten. Mit dem ersten Klingeln erhob ich mich vom Stuhl.
„Ich hoffe, du wirst dir meine Worte zu Herzen nehmen.“
Ich nickte ihr zu und weg war ich. Mein Gehirn war für so ein Wissen nicht geeignet. Ich kam auch so durch das Leben. Ich beschloss, nicht mehr auf die Schule zu gehen. Heute war mein letzter Schultag. Ich mochte meine Klassenlehrerin, doch das half mir auch nicht weiter.
Ich packte ein paar Sachen zusammen und machte mich auf den Weg ins Ungewisse. Ich wusste nicht einmal, wohin ich gehen sollte. Meine Mutter würde es irgendwann einmal verstehen und mir bestimmt verzeihen, dass ich ihr solch einen Kummer bereitet habe.
Ohne zu denken machte ich mich auf den Weg.
„Wo soll ich jetzt hin? Welche Richtung soll ich gehen? Wie geht´s jetzt weiter?“ Ich schaute mir die Leute an und sah in viele verschiedene Gesichter. Einige von ihnen strahlten, andere dagegen wirkten verzehrt, unzufrieden.
Was war mit ihnen los, dass sie so aussahen? Ich kam immer näher an den Bahnhof, und dort saßen so viele Jugendliche mit ihren Kippen im Mund und das Bier in der Hand. Laute Musik wurde gespielt. Sie ließen sich durch nichts stören, als würde ihnen der Platz hier gehören. Einige von ihnen sprachen die Leute an, die an ihnen vorbeigehen wollten. Die Leute schauten sie jedoch nur angewidert an. Wollte ich auch so enden? Ich setze mich zu einem jungen Mädchen, die schaute mich an und reichte mir ein Bier. Ich nahm es und wollte schon einen Schluck aus der Flasche nehmen, als mir jemand sagte:
„Du gehörst hier nicht her.“ Ich sah mir den Mann an. Sein Haar war verfilzt, sein Bart war schon sehr lange nicht mehr rasiert worden. Seine Hände waren voller Risse. Komischer Weise machte mir der Mann keine Angst.
„Wie kommen Sie darauf, dass ich hier nicht hingehöre?“
Der Mann nahm mir die Bierflasche aus der Hand, stand auf und wollte, dass ich ihm folgte.
Ohne darüber weiter nachzudenken, stand ich auf und folgte ihm mit ein wenig Abstand.
Er schaute sich nicht einmal zu mir um, er lief einfach drauf los. Kurz bevor ich unter einer Brücke durchgehen wollte, blieb er stehen.
„Wenn du möchtest, wird das heute Abend dein Schlafplatz sein. Das sind Heinrich und Walter. Wir werden heute Nacht auf dich aufpassen. Ich bin Karl, für den Fall, dass du mit mir sprechen möchtest.“
Wo sollte ich denn heute Nacht auch hin? Nicht für eine Sekunde hatte ich darüber nachgedacht, ich war einfach abgehauen, ohne zu wissen, wohin meine Reise gehen sollte.
Ich holte meinen Schlafsack aus meinem Rucksack heraus und legte ihn auf ein Stück Pape. Der Rucksack würde mein Kopfkissen sein. Karl reichte mir eine Dose Ravioli, kalt. Ich mochte dieses Zeug noch nie, doch heute hatte ich keine andere Wahl, wenn ich nicht mit leerem, knurrendem Magen einschlafen wollte.
„Putz dir noch die Zähne, du brauchst deine Zähne noch.“ Karl reichte mir eine kleine Flasche Wasser.
Ich wollte meine Augen schließen, als mich etwas Kaltes berührte. Unter meinen Armen versuchte sich ein kleiner Hund durchzuwühlen.
„Das ist Big. Er möchte anscheinend bei dir schlafen.“
Ich musste schmunzeln, er war nicht Big, er war eher Small. Zufrieden mit seinem Schlafplatz heute Nacht, schnarchte er mir in das Ohr. Ich konnte nicht schlafen, und Big leckte mir sanft über das Gesicht.
„Du kannst wohl nicht schlafen? Du gehörst nicht zu uns auf die Straße, egal was du im Moment für Probleme mit dir herumträgst, es ist nicht so schlimm, wie du meinst.“
„Ich glaube kaum, dass du das beurteilen kannst. Du kennst mich überhaupt nicht.“ Ich fühlte mich, wie immer, unverstanden und riss meinen Schlafsack auf. Weglaufen - das konnte ich und machte es auch. Big folgte mir ganz brav und legte sich zu meinen Füßen.
„Du kannst ein Leben lang vor deinen Problemen davonlaufen, aber es wird dich verfolgen, egal, wohin du auch gehen magst. Du kannst es wie die anderen Kids machen, dir Drogen besorgen, dich kurz aus dem Leben schießen, aber du musst und wirst immer wieder aufwachen. Und das Erwachen bleibt dir nicht erspart. Die einzige Möglichkeit ist, dass du dir dein Leben nimmst. Alle zurück lässt, die dich in ihr Herz geschlossen haben. Aber die können dir dann auch egal sein.“
Ich konnte nicht mehr schlucken, die Tränen drückten mir die Kehle zu. Big versuchte, so viele Tränen weg zu lecken wie er konnte.
„Ich bin dumm, ich verstehe viele Dinge einfach nicht. Ich bin zu langsam im Denken. Wenn mir die Lösung einfällt, dann ist es schon zu spät.“
„Nicht jeder Mensch ist gleich. Wenn du für manche Dinge oder Gedanken zu langsam bist, bist du in anderen Dingen schneller als andere. Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen. Ich kann dich verstehen, dass es für dich nicht schön ist, gefragt zu werden und du weißt nicht einmal, worüber sie gerade sprechen. Du möchtest, dass sich der Erdboden auftut und dich mitnimmt, damit dich die anderen nicht auslachen. Ich kenne diese Gefühle sehr gut. Sie waren sehr lange auch meine Begleiter. Bis ich stehen geblieben bin und mir sagte: „Jetzt ist Schluss!“ Heute lebe ich auf der Straße, und ich werde wieder ein zuhause haben, egal wie lange es dauern mag.
Wenn ich morgen früh meine Augen aufmache und du noch da bist, dann helfe ich dir, besser zu verstehen. Wenn du den Mut hast, dich dem zu stellen, dann gehst du wieder in die Schule und zeigst es den anderen. Versprochen?“
Ich konnte nichts sagen, mein Körper fing an zu frieren und ich musste ihn fest umschlingen. Big jaulte mich an. Ich legte mich in den Schlafsack, und Big drückte sich ganz fest an mich. Viel zu müde und erschöpft, um weiter wegzulaufen, war ich eingeschlafen. Etwas Feuchtes weckte mich. Ein wenig verschwommen öffnete ich meine Augen. Big nahm das wohl zum Anlass, meine Augen zu reinigen.
Karl reichte mir einen warmen Kakao. Ich nahm ihn dankbar an. Karl sah mich, sprach aber nicht mit mir, vielleicht hoffte er, dass ich den ersten Schritt auf ihn zumachte.
Ohne meinen Blick von dem Kakao zu nehmen, fing ich an zu sprechen.
„Ich habe vor zwei Jahren meinen Vater verloren. Er ist einfach nicht mehr nach Hause gekommen.
Er war Dachdecker. Er dachte, ihm würde nie etwas passieren, er trage das Glück unter seinen Füßen. Doch er rutschte auf einer Dachlatte aus und verlor sein Gleichgewicht. Er konnte sich nicht mehr festhalten und ist das Dach heruntergestürzt. Den Aufprall hat er nicht überlebt. Ich glaube, ich habe auch mein Gleichgewicht verloren. Ich vermisse ihn so sehr. Wenn ich nicht weiterwusste, konnte ich immer zu ihm gehen. Er streichelte mir immer über den Kopf und sagte immer zu mir: „Nie aufgeben, du wirst es schon schaffen!““. Big leckte mir die Tränen aus dem Gesicht.
„Dein Vater hatte Recht. Du vermisst ihn, das ist auch gut so. Dann denk an ihn und gib ihm auch Recht. Lauf nicht davon, sondern stell dich deinen Schwächen und mach sie zu deiner stärksten Seite in dir. Es wird Menschen geben, die dir auf diesem Weg helfen werden. Pack deine Sachen zusammen, wir bringen dich nach Hause. Die Strafe, die du von deiner Mutter bekommen wirst, wirst du ohne ein Wort annehmen. Du wirst dich bei deiner Lehrerin entschuldigen. Du wirst nie wieder schwänzen, sondern solange nachfragen, bis du es verstanden hast.“ „Und wenn es dunkel wird, bevor ich es verstanden habe?“
„Kein Problem! Am nächsten Tag scheint wieder die Sonne, und dann geht es weiter.“
Wie ein geprügelter Hund packte ich meine Sachen zusammen.
Zu Hause angekommen, traute ich mich nicht zu klingeln. Big schupste mich an. Ich schaute zu ihm herunter. „Du bekommst jetzt auch keinen Ärger, ich schon.“
Meine Mutter öffnete die Tür, und anstatt etwas zu sagen, riss sie mich an sich und ich hörte, wie sie schwer atmete. „Ich habe schon einen Menschen verloren, ein zweites Mal halte ich diesen Schmerz nicht aus. Tu mir das nie wieder an! Entschuldigen sie bitte. Ich wollte nicht unhöflich erscheinen, ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie mir meine Tochter zurückgebracht haben.“ Big wollte anscheinend auch Aufmerksamkeit und sprang an den Beinen meiner Mutter hoch. „Auch dir danke ich, kleiner Hund.“ „Mama, das ist Big.“ „Kommt rein!“
Karl schaute sich bei uns um, als hätte er schon lange keine Wohnung mehr von innen gesehen. Big fühlte sich anscheinend schon wie zuhause. Er rollte sich auf dem Teppich hin und her.
„Möchten sie eine Tasse Kaffee?“ Karl schaute mich an, und ich nickte ihm zu.
„Mama, es tut mir leid, dass ich so dumm war, ich habe nur an mich gedacht und nicht an dich. Ich wollte aber nicht immer als das dumme Mädchen dastehen, kannst du mich nicht ein wenig verstehen?“
„Nein, das kann ich nicht. Weglaufen ist keine Lösung. Dein Vater hat dir immer wieder gesagt, du sollst niemals aufgeben, er hat immer an dich geglaubt, und du?“ Big setzte sich zu mir und versuchte wohl zu zeigen, dass er mir zur Seite stand.
„Sie wird es nie wieder machen, das hat sie mir versprochen.“ Meine Mutter sah zu Karl herüber.
„Du wirst dich morgen bei deiner Lehrerin entschuldigen!“ Ich sah Karl an und wusste schon von ihm, dass ich diesen Weg gehen musste.
Karl wollte sich verabschieden, doch meine Mutter stoppte ihn. „Sie sind hier bei uns immer willkommen, und wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, dann bitte sagen Sie es mir.“
Karl wollte gehen und sah, dass Big sich nicht bewegen wollte.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht und Big es wirklich möchte, dann würde ich mich freuen, wenn er bei Ihnen ein schönes, warmes Zuhause bekommen würde.“ Meine Mutter sah das Leuchten in meinen Augen.
„Wenn Sie mir versprechen ihn immer zu besuchen, wann immer Sie wollen.“
„Das werde ich bestimmt machen. Pass gut auf das Mädchen auf, Big!“
Am nächsten Tag ging ich wieder in die Schule und, wie immer konnte es meine Lehrerin es sich nicht verkneifen zu erwähnen, wie schön es doch sei, dass ich den Weg in die Schule gefunden habe. Ich musste dann nur an meinem Vater und an Karl denken, und ich beruhigte mich dann ganz schnell wieder. Die Klingel läutete die Pause ein, und ich nahm all meinen Mut zusammen und ging auf meine Klassenlehrerin zu.
„Frau Seifert, haben sie eine Minute für mich?“ Frau Seifert sah mich an und nickte mir erwartungsvoll zu.
„Wie sie vielleicht schon bemerkt haben, bin ich nicht die Hellste hier in der Klasse. Ich habe große Schwierigkeiten ihnen zu folgen. Ich verstehe oftmals nicht, was sie sagen. Ich bin dann immer selber wütend auf mich, und so verhalte ich mich dann auch so. Ich mache sie dafür verantwortlich und muss dann immer nur weglaufen, weil ich eben dumm bin.“
„So junge Dame, es reicht! Als erstes wirst du aufhören, dich als dumm zu bezeichnen. Das bist du auch nicht. Du bist einfach nur etwas langsamer als einige andere, mehr nicht. Ich finde es sehr schön, dass du das Gespräch mit mir suchst, und wir werden zusammen eine Lösung finden.“
Das erste Mal, dass ich mir nicht mehr dumm vorkam. Ich bedankte mich und ging mit den anderen in die Pause.
Frau Seifert schaute mich ganz besonders oft an, um sich zu vergewissern, dass ich auch alles verstanden habe. Sie spürte, wenn es nicht so war, und sie hat mich in den Pausen immer darauf angesprochen und mir die Zeit geschenkt, die ich brauchte, um zu verstehen. Sie verzichtete auf ihre Pause, um für mich dazu sein. Ein schönes Gefühl!
Karl kam fast jeden Tag vorbei, um nach Big und mir zu schauen. Wir sind dann immer gemeinsam spazieren gegangen. Ich erzählte ihm dann immer von der Schule. Zu Hause kochte meine Mutter ihm Kaffee, und zusammen lernten wir dann auch noch für die Schule. Meine Mutter ließ uns dann immer alleine und schloss ganz leise die Tür. Nur das leise Schnarchen von Big war zu hören.
Als Karl uns verlassen wollte, stoppte meine Mutter ihn und gab ihm eine Karte. Karl sah meine Mutter an.
„Ein Freund von mir hat eine eigene Firma und sucht noch Leute für sein Lager, und da dachte ich an Sie. Wenn Sie möchten, können Sie direkt zu ihm gehen. Ich habe ihm von Ihnen erzählt.“
Ich brachte Karl zu Tür. Er wollte einfach nur weg. Diesmal stoppte ich ihn.
„Du kannst den Rest deines Lebens nicht unter einer Brücke schlafen. Jetzt musst du dich dem Leben wieder stellen. Lauf nicht weg. Du hast gesagt, wenn du noch einmal eine Chance bekommst, wirst du sie auch nutzen. Geh zu dieser Firma, und ich weiß, wenn sie dich sehen, werden sie dich auch einstellen. Dann kannst du dir auch wieder eine Wohnung leisten.“
Karl ging einfach. Er wollte nicht mehr mit mir sprechen. Eine ganze Woche hörte ich nichts mehr von ihm. Er hatte sich für die Straße entschieden. Er fehlte mir.
Meine Mutter kam in mein Zimmer, setzte sich zu mir auf das Bett. „Schau mal, wen ich mitgebracht habe.“ Ich traute meinen Augen nicht. Karl war wieder da. Ich wollte gerade in seine Arme laufen. Ich blieb stehen. „Du siehst so anders aus. Was ist passiert?“
„Ich habe einen neuen Job und eine kleine Wohnung. Mein neuer Chef hat sie mir besorgt. Also, wenn du willst, kannst du mich immer besuchen kommen, wenn deine Mutter nichts dagegen hat, natürlich.“
Ich sah es im Gesicht meiner Mutter, dass sie es begrüßen würde. Karl stellte sich neben meine Mutter.
„Wir beide wollen doch sehen, wie du deinen Schulabschluss bekommst.“
Ich war nicht mehr alleine mit meinen Sorgen und Ängsten. Alle Lehrer unterstützten mich, und meine Zensuren zeigten, dass es sich gelohnt hatte, nicht aufzugeben. Voller Stolz zeigte ich den beiden mein Zeugnis. Ich wurde versetzt, und das mit so guten Noten. Heute macht mir das Lernen viel Spaß und ich überlege, vielleicht selber Lehrerin zu werden.